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Technologie: Schwanken zwischen Vertrauen und Misstrauen

Vielleicht kennen Sie diese Situation: Ich sass neulich im Auto eines Freundes, und die vier Mitfahrenden bildeten zwei Lager. Die einen waren begeistert von der Fülle von Sensoren und Technik, die das moderne Fahrzeug an Assistenzsystemen zu bieten hatte. Die anderen zwei waren skeptischer und schworen auf die Kontrolle und den menschlichen Instinkt. Die Diskussion über Statistiken und andere Glaubenssätze hätte sich endlos hinziehen können, wenn der Fahrer nicht alle Meinungen auf einen Nenner gebracht hätte. Tatsächlich hatte ihn sein Auto vor einem Unfall auf der Autobahn gerettet. Wohl einige Monate zuvor hätte diese Situation noch dramatisch enden können. Das Eingreifen des Sicherheitssystems in die Lenkung verhinderte, dass ein Lastwagen, den mein Freund überhaupt nicht gesehen hatte, in ihn hineinfuhr.

 

Von Laurent Pellet
Limited Partner & Global Head of EAM, Lombard Odier Group

 

Risikowahrnehmung und neu entstehende Chancen

Diese Anekdote bringt unser sehr menschliches Bedürfnis zum Ausdruck, die Technologie-Vorteile selbst zu erleben, bevor wir sie übernehmen. So wurde den ersten iPhones oder der Spotify-App anfänglich keine grosse Zukunft beschieden – bis die Nutzer sie schliesslich nicht mehr missen wollten. Nicht viel anders verhält es sich letztlich bei den Technologien, die wir im Finanzbereich einsetzen – oder ganz allgemein in Zukunft einsetzen können. Ganz gleich, ob es sich dabei um Technologien für die Finanzanalyse, das Portfoliomanagement oder die Interaktion mit unseren Kundinnen und Kunden sowie unseren Partnern handelt – die ihrerseits oft nach intuitiven und sicheren digitalen Lösungen und Plattformen verlangen.

Allerdings dürfen wir nicht in Naivität verfallen; vielmehr muss das Risikomanagement bei jeder technologischen Entwicklung einen zentralen Platz einnehmen. Cyberangriffe sind laut dem Anfang des Jahres veröffentlichten Barometer 2023 der Allianz Versicherungen die wichtigsten Risiken, die von Schweizer Unternehmen identifiziert wurden. Und selbst der Bundesrat räumt der Digitalisierung des gesamten Finanzplatzes zur Erhaltung seiner Wettbewerbsfähigkeit hohe Priorität ein. Er veröffentlichte letztes Jahr einen Bericht und eine Roadmap in diesem Sinne mit dem Titel „Digital Finance: Handlungsfelder 2022+“. Dieses Dokument umfasst beispielsweise zwölf Massnahmen, die der Schweiz einen starken Finanzplatz im digitalen Zeitalter sichern sollten.

 

Nach der Compliance sind die Technologie und Wachstumsprojekte an der Reihe

Bei den unabhängigen Vermögensverwaltern überwogen bis Ende letzten Jahres – der von der FINMA und dem Finanzinstitutsgesetz (FINIG) gesetzten Frist – die Compliance-Fragen gegenüber den technologischen Entwicklungen.

Für die meisten von ihnen beginnt damit eine neue Ära, die mit Anerkennung und neuen Chancen für den Beruf verbunden ist. Doch dieses neue Leben hat seinen Preis: Es bedeutet erhöhte Anforderungen und die Umsetzung neuer FINMA-Verfahren und -Richtlinien. Die Akteure müssen sich neue Fähigkeiten aneignen, um ihr Geschäftsmodell weiterzuentwickeln und sich auf neue Wachstums- und Einnahmequellen zu konzentrieren.

Technologie wird für Unternehmen der Schlüssel sein, um langfristig lebensfähig zu bleiben, ihre internen Prozesse zu optimieren und zu automatisieren, um die Effizienz zu steigern, Kosten zu senken und menschliche Fehler zu reduzieren. Vor diesem Hintergrund sind Partnerschaften und Kooperationen mit Banken und dem Umfeld von Fintech-Unternehmen in der Schweiz sehr sinnvoll. Gemeinsam können wir die Produktivität steigern und vermehrt Synergien schaffen, mit denen wir die Belastung durch die Vielzahl von Vorschriften verringern können.

Lösungen mit dem Ziel, Banken und unabhängige Vermögensverwalter zusammenzuführen, um die Prozesse zu standardisieren, gibt es bereits. Beispiele hierfür sind Wecan Comply oder OpenWealth. Diese Lösungen spiegeln den Willen der Depotbanken und Vermögensverwalter wider, gemeinsame Standards zu definieren.

 

Erleichterung der Interaktion zwischen Banken und unabhängigen Vermögensverwaltern

Im Rahmen des Projekts Wecan Comply, das die Interaktionen zwischen den Banken und den unabhängigen Vermögensverwaltern erleichtert, haben sich mehrere Banken der Initiative angeschlossen. Es geht um viel: Rationalisierung der Prozesse, Verringerung der mit der Compliance verbundenen Arbeitsbelastung und Austausch von Informationen in Echtzeit mithilfe der Blockchain-Technologie. In Zukunft gibt es im Blockchain-Bereich zahlreiche andere potenzielle Anwendungen für Vermögensverwaltungsdienstleistungen wie die Verwaltung von Non-Fungible Token oder intelligente Verträge (Smart Contracts).

Ausserdem sind noch nicht alle Vermögensverwalter mit einem Portfoliomanagementsystem (PMS) ausgestattet. Es wird immer schwieriger, diesen Beruf weiter auszuüben, ohne über ein System vom Typ PMS oder ein insbesondere mit einem Kundenbetreuer (CRM) und/oder dem Management der Prozesse „Suitability“ und „Appropriateness“ stärker integriertes System zu verfügen.

Für eine Depotbank, die mit Vermögensverwaltern zusammenarbeitet, wird es unerlässlich sein, digitale Datenflüsse zwischen dem System der Bank und dem vom Verwalter verwendeten PMS zu entwickeln und zu implementieren. Insbesondere die nachgelagerte Integration bedeutet, dass Handelsaufträge von ihrem PMS gesendet und in Echtzeit ausgeführt werden können.

Natürlich wird der zwischenmenschliche Kontakt weiterhin im Mittelpunkt der Vermögensverwaltung stehen, entgegen der weitverbreiteten Bedenken, Digitalisierung gehe zwingend mit einer Entmenschlichung einher. In der Zwischenzeit werden die neuen Technologien dazu beitragen, die Beziehungen zu verbessern, die Kommunikation zu erleichtern und die Prozesse zu optimieren, so dass die unabhängigen Vermögensverwalter klarer in die Zukunft blicken und sich auf ihr Kerngeschäft konzentrieren können.

 

 

Biografie

Laurent Pellet kam im Juni 2017 zu Lombard Odier. Im Jahr 2018 übernahm er die Verantwortung für die Abteilung externe Vermögensverwalter der Gruppe.

Seine berufliche Laufbahn begann bei Ferrier Lullin, wo er mehr als 15 Jahre lang verschiedene Positionen innehatte, unter anderem als Head of Credit and Risk und ab 1997 als Leiter der Abteilung für externe Vermögensverwalter. Im Jahr 2006 wechselte er zu Julius Bär, wo er das Geschäft mit externen Vermögensverwaltern in der französischsprachigen Schweiz und in Westeuropa leitete. Im Jahr 2012 wurde sein Verantwortungsbereich auf Monaco und den Nahen Osten ausgeweitet.

Laurent Pellet verfügt zudem über Abschlüsse in Kredit- und Risikomanagement und in quantitativem Portfoliomanagement der Universität Genf. Darüber hinaus verfügt er über ein Diplom in digitalem Finanzrecht der Universität Genf und das "International Certificate of Private Banking and Wealth Management Retreat" des Swiss Finance Institute. Er ist zertifizierter Wealth Management Advisor (CWMA).